Peter Kirsch
Quelle: Peter Kirsch: Die Barbaren aus dem Süden. Europäer im alten Japan 1543 bis 1854. Wien, Mandelbaum, 2004
An manchen Orten Kyushus, in Nagasaki, in Shimabara oder im abgelegenen
Hirado, kann der Tourist heute unter den Produkten der japanischen Nippes- und
Reiseandenkenindustrie eigenartige Keramikmännchen entdecken. Sie tragen
manchmal große runde Schlapphüte, Stulpenstiefel und eine Kleidung,
die an europäische Vorbilder des 17. und 18. Jahrhunderts erinnert. Sind
es japanische Gartenzwerge? Oder mythologische Figuren? Wer fragt, bekommt auch
gleich die Antwort: Die Figürchen aus der Tradition der Netsuke - Schnitzereien
(Gürtelknöpfe) stellen die Europäer dar, die zur Zeit des alten
Japans, der Zeit vor der Öffnung des Landes für die übrige Welt,
ihren Weg hierher gefunden hatten. Heute sind sie putzige Zwerglein der japanischen
Folklore. Damals waren es Männer aus Fleisch und Blut, Männer unterschiedlichster
Herkunft und mit den unterschiedlichsten Absichten, die nach einer schier endlosen
Seereise in Japan an Land gegangen waren.
Europäer waren es, die fast ein Jahrhundert lang mit ihrem Glaubens- und
Missionseifer die Seelen vieler Japaner in Verwirrung stürzten. Europäer
waren es, die hier jahrhundertelang Silber, Seide und tausend andere luxuriöse
und praktische Dinge ins Land brachten, darunter die rauhe Haut des Rochens,
die den Griff des japanischen Schwertes umspannte, und das Kobalt für das
Blau der Porzellanmalerei. Sie waren es, die das Wissen über die Welt außerhalb
Japans vermittelten, nicht nur über den Bau eines Gewehrs, sondern auch
über das Zusammenspiel der Sterne, über die Segnungen der Medizin
oder das Funktionieren einer Uhr und einer Feuerwehrspritze.
Die Fremden kamen aus Ländern, in denen nicht - wie in China - konfuzianische
Prinzipien herrschten. Sie erschienen daher den Japanern ungehobelt und wurden
die "Barbaren aus dem Süden" genannt. Diese "Südbarbaren"
betrachteten das Inselreich als einen Boden, auf dem gute Geschäfte zu
machen waren. Und das galt nicht nur für die Handelskompanien, für
die sie arbeiteten. Auch in die eigene Tasche ließ sich hier trefflich
wirtschaften. Das machte viele Entbehrungen wett.
Die kollektive Erinnerung an diese Männer aus vier Jahrhunderten ist heute
für den durchschnittlichen Japaner zu einer Miniatur geschrumpft, zu den
lustigen Zwergen, die ein bißchen europäisch aussehen. Er denkt nicht
an den Wert der zahlreichen wissenschaftlichen und kulturellen Informationen,
mit denen die Europäer einst sein Land bereicherten. Die Figürchen
sind heute Symbole für etwas Ungefährliches und Begreifbares, das
den eigenen Rang und das eigene Selbstwertgefühl nicht mehr in Frage stellt.
Es sind die Spuren dieser ganz unterschiedlichen Männer, denen der Autor
nachgehen möchte. Es ist die Geschichte der Europäer im vormodernen
Japan, die wiederum ein Teil der Geschichte der europäischen Expansion
in Asien ist.
Es war immer schwierig, die fernen Inseln Japans zu erreichen. Das begrenzte
die Zahl der europäischen Besucher. Was es bedeutete, das Land direkt von
Europa aus anzusteuern, sehen wir an den extremen Anstrengungen und den Unwägbarkeiten,
denen die Männer der Expedition von Coordes und Mahu (1600) ausgesetzt
waren. Eigentlich war ein System von leistungsfähigen Stützpunkten
notwendig, um überhaupt eine gewisse Regelmäßigkeit der Kontakte
mit diesem abgelegenen Reich zustande zu bringen. Solche Stützpunkte sind
nie wegen Japan selbst gegründet worden, sondern meistens aus kaufmännischem
Interesse am gigantischen Markt China oder wegen der Herrschaft über die
Sundastraße, den Zugangsweg zur Inselwelt Indonesiens. Über eine
derartige Infrastruktur aus Stützpunkten verfügten jahrhundertelang
nur die Portugiesen mit Macao an der chinesischen Küste, die Spanier mit
den Philippinen und die Niederländer mit Batavia auf Java. Die Engländer,
die als protestantische Macht mit den Niederländern eine Zeitlang verbündet
waren, nutzten die entsprechenden niederländischen Einrichtungen.
Welche Männer waren es, die nach jahrelanger Seereise schließlich
auf den japanischen Inseln an Land gingen? Den typischen Europäer dort
hat es nicht gegeben. Er war immer ein Kind seiner Zeit und seiner Kultur. Die
Zeiten und Kulturen, aus denen die europäischen Besucher des alten Japans
kamen, waren sehr unterschiedlich. Ihr Reigen begann mit den Männern der
katholisch-klerikal geprägten portugiesischen Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts.
Zumindest die portugiesischen Geschichtsschreiber waren davon überzeugt,
daß ihr Land den göttlichen Auftrag hatte, seine Religion und Herrschaftsform
über die Meere zu verbreiten - wenn es sein mußte auch mit Gewalt.
Und dieser Auftrag verband sich mit dem Anliegen der Profitmaximierung bei den
portugiesischen Kaufleuten. Die Portugiesen trafen in der zweiten Hälfte
des 16. Jahrhunderts in Japan auf ein instabiles, von Bürgerkriegen zerrissenes
und verwüstetes Land ohne starke zentrale Führung. Das begünstigte
das zersetzende Eindringen des katholischen Glaubens in die japanische Kultur.
Mit der zunehmenden Einigung Japans und dem Erstarken einer zentralen Macht
begannen folgerichtig die Schwierigkeiten für die fremden Eindringlinge
und ihre Lehre. Es war der portugiesische Handel, der einst die Mission in Japan
ermöglicht und finanziert hatte, und es war die Mission, die später
diesen Handel wieder zerstörte.
Einem ganz anderen Kulturkreis entstammten die Europäer aus den protestantischen
Ländern. Im Kaufmannsimperium der Niederländischen Ostindischen Kompanie
entstand kein Druck durch die Mission. Hier war man in religiösen Dingen
zurückhaltend. Die Protestanten, Niederländer und Engländer,
kamen zu Beginn des 17. Jahrhunderts in ein anderes, stärkeres Japan als
die Portugiesen 50 oder 60 Jahre zuvor. Sie waren die Vertreter profitorientierter
Handelsgesellschaften, die von ihren Geistlichen nur zu ihrem eigenen Seelenheil
begleitet wurden. Man dachte nicht im geringsten an eine kulturelle Einflußnahme,
sondern war vor allem darauf bedacht, daß die Aktionäre zu Hause
eine gute Dividende erzielten.
Wegbereiter der europäischen Kontakte mit Japan waren also die Kaufleute.
Sie haben über viele Jahrzehnte hinweg davon profitiert, daß es keinen
freien Handel zwischen China und Japan gab. Zum einen war den Chinesen seit
1549 jeder Handelsverkehr mit Japan untersagt, nachdem japanische Seeräuber
die chinesischen Küsten unsicher gemacht hatten. Dieser dem Schmuggel förderliche
Zustand endete erst 1644 mit dem Sturz der Ming-Dynastie. Zum anderen gab es
auch in Japan eine restriktive Handelspolitik gegenüber China. Solche Einschränkungen
ließen den portugiesischen Handel aufblühen. Man führte chinesische
Seide und Arzneimittel und einige südostasiatische Produkte nach Japan
ein und exportierte Silber, Kampfer, Kupfer und Lackarbeiten. Importe aus Europa
spielten keine nennenswerte Rolle, so daß man die Tätigkeit der portugiesischen
Kaufleute eigentlich als einen "indirekten China - Japanhandel" bezeichnen
könnte.(1)
Die europäischen Kaufleute betraten ein Land, in dem eine strenge feudale
Ordnung herrschte. Hier lebten etwa zwei Millionen Mitglieder der unproduktiven
herrschenden Klasse, das waren der Adel und die Kriegerkaste der Samurai, von
der Arbeit der Bauern und Handwerker. Der Graben zwischen einem Bauern und einem
Samurai war breit und unüberwindbar. Das untere Ende der Rangskala nahmen
die Eta, die Unberührbaren, die Ausgestoßenen, ein, die dennoch unvermeidbare
Arbeiten verrichteten. Den vorletzten Platz besetzten die Kaufleute, denn der
Handel war ein wenig geachtetes Gewerbe. Doch die Kaufleute wußten sich
dadurch zu behaupten, daß sie Edelmetalle und später Geld besaßen.
Für den japanischen Feudaladel war es undenkbar, irgend etwas zu produzieren
und damit Gewinn zu machen. Und so war Geld beim Adel, bei den Lehnsleuten,
den Daimyo und bei den Samurai ständig knapp. Hier setzten die Kaufleute,
auch die europäischen, an. Das bißchen Achtung für die Europäer
kam mit dem Geld, das der Adel durch sie erhielt.
Vom Zugang der Kaufleute zum Adel profitierte wiederum die Mission. Ein Daimyo,
ein Lehnsmann auf Kyushu, dessen Häfen die portugiesischen Kaufleute besuchten,
sah im einsetzenden Geldstrom einen Zugewinn an Macht und Einfluß. Dieser
Geldstrom hing auch von der Fürsprache der christlichen Missionare ab.
Und worauf beruhte deren Erfolg? Anfänglich hielt man die Gottesmänner
für Mitglieder einer neuen buddhistischen Sekte, die toleriert werden konnten.
Als sich herausstellte, daß die Fremden eine unendlich weite Seereise
hinter sich gebracht hatten, nur um die Japaner von ihrem Glauben an eine unsterbliche
Seele und an einen Erlöser zu überzeugen, beeindruckte das durchaus.
Noch dazu in einem Land mit traditioneller Ahnenverehrung. Schmeichelte es nicht
dem sterblichen Menschen, eine unsterbliche Seele zu besitzen? Und waren sie
nicht wichtig, diese Patres, da sie alles über die "ewige Seligkeit"
wußten?
Dennoch darf man diesen meist auf Kyushu begrenzten Einfluß der Missionare
auf die Gesellschaft im alten Japan nicht überbewerten. Er verschwand nach
etwa 90 Jahren so schnell, wie er gekommen war. Es bedurfte harter Maßnahmen
und großer Opfer an Menschenleben, um das Christentum in Japan so gründlich
zu vernichten, daß es praktisch keine Spuren hinterließ. Sein Niedergang
begann mit der zunehmenden Macht des Shoguns, der formell der oberste Feldherr
des Kaisers war. Um diese Macht zu erhalten und um den Frieden zu sichern, kam
es den Shogunen - sie waren Militärdiktatoren - darauf an, die wirtschaftliche
Unabhängigkeit ihrer Lehnsmänner zu kontrollieren und zu beschneiden.
Das japanische Selbstverständnis einer streng hierarchisch gegliederten
Gesellschaft mit dem Shogun an der Spitze wurde von den Autoritäten, die
ein japanischer Christ anerkannte, in Frage gestellt. Hatten die Christen nicht
dem Papst in Rom, nicht aber dem Shogun als wichtigster Autorität, zu gehorchen?
Als das Christentum dann die althergebrachte japanische Gesellschaftsordnung
immer mehr bedrohte, kam es schließlich zu einer Ghettoisierung der Unruhe
stiftenden Europäer in Hirado und Nagasaki. Dort standen dann ihr Handel
und Wandel unter einer ständigen Aufsicht durch den Staat.
Was dachte man voneinander? Die gegenseitige Einschätzung von Europäern
und Japanern war sehr unterschiedlich. Es waren die jesuitischen Missionare,
die als erste sehr positive Nachrichten über das Land, in dem sie arbeiteten,
nach Europa brachten. Ihre Motive waren klar. Sie suchten in der Heimat qualifiziertes
Personal und Kapital, um die vielversprechende Mission voranzutreiben, denn
"diesen Heiden fehlt zur Vollkommenheit nur noch das Evangelium".
Für die Japaner waren anfangs die Portugiesen, die Barbaren aus dem Süden,
so etwas wie Dämonen oder übernatürliche Wesen, denen man auch
bereitwillig tierische Eigenschaften zusprach. Im Volk ging sogar die Mär,
daß sie wie ein Hund das Bein heben würden, wenn sie urinierten.
Außerdem konnten sie beim Gehen nur mit den Zehen auftreten. Wozu brauchten
sie sonst die hölzernen Klötze hinten an ihren Schuhen? Und etwas
objektiver, wenn auch mit einer gefährlichen Fehleinschätzung, heißt
es in einer japanischen Quelle über die ersten Portugiesen, die nach Tanegashima
kamen: "Sie können bis zu einem gewissen Grad zwischen höhergestellten
und niedrigen Menschen unterscheiden, aber es ist zweifelhaft, ob sie wirklich
über zeremonielle Etikette verfügen. Sie essen mit den Fingern statt
mit Stäbchen wie wir. Sie zeigen ihre Gefühle ohne jegliche Selbstbeherrschung.
Sie können die Schriftzeichen nicht lesen. Es sind Leute, die ohne festen
Wohnort herumvagabundieren und Tauschhandel mit Dingen treiben, die andere nicht
haben. Aber alles in allem sind sie harmlos."(2) Als dann später die
Niederländer ins Land kamen, wurden sie die "Rothaarigen" genannt,
wobei weniger auf ihre tatsächliche Haarfarbe abgehoben wurde als auf den
diabolischen Eindruck, den die Fremden erweckten.(3)
In Japan galten die Europäer nicht als die unangreifbaren Herren, die über
mächtige Schiffe mit Geschützen verfügten und Truppen hinter
sich wußten, die den Nimbus der Unbesiegbarkeit besaßen. Das Land
war stark und kriegerisch. Hier konnte man es sich leisten, die Händler
allein unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit zu betrachten. Es gab nur
eine zeitlich begrenzte Ausnahme: die "Hofreise". Jahrhundertelang
waren die Europäer, Portugiesen wie Niederländer, verpflichtet, jährlich
eine Gesandtschaft an den Hof des Shoguns zu schicken. Dort holte man sich offiziell
die Handelserlaubnis für die laufende Saison, man pflegte Kontakte und
übergab die Geschenke, die eigentlich eine Art von Naturalsteuer waren.
Da es für den Shogun undenkbar war, einen Kaufmann zu empfangen, wurde
der Gesandte für die Zeit der Hofreise in den Rang eines kleineren Lehnsträgers
erhoben.
Aber es gab auch noch eine andere, wenn auch winzige Gruppe von Europäern
in Japan, denen man so etwas wie Respekt entgegenbrachte. Das waren die Ärzte.
Ihre Zeit kam, als die wenigen Niederländer in Nagasaki die einzigen Europäer
waren, die noch im Lande geduldet wurden. Da in der sino-japanischen Medizin
auf chirurgische Kenntnisse wenig Wert gelegt wurde, waren die Heilerfolge der
japanischen Ärzte auf diesem Gebiet bescheiden. Umso mehr wurden daher
das Wissen und die therapeutischen Erfolge der europäischen Ärzte
anerkannt und geschätzt. Ihr Einfluß begann im Jahre 1649, als erstmalig
ein Mitglied der jährlichen niederländischen Gesandtschaft am Hof
des Shoguns dort, in der Hauptstadt zurückbleiben durfte. Es war der Leipziger
Arzt Dr. Caspar Schamberger. Er leitete in Edo, dem späteren Tokio, ein
chirurgisches Praktikum und begründete damit so etwas wie eine "Schule",
denn seine Instruktionen wurden später von den Praktikanten an andere Schüler
weitergegeben.
Damals erkannten die Kaufleute der VOC, der "Vereenigde Oostindische Compagnie",
daß die bestaunten Kenntnisse der europäischen Ärzte auch ihr
Prestige hoben. Und so legten sie fortan Wert darauf, daß möglichst
oft ein hervorragender Vertreter dieses Berufsstandes in Nagasaki und bei der
Reise an den Hof in Edo anwesend war. Diese naturwissenschaftlich ausgebildeten
Männer, die mit dem Kommerz wenig zu tun hatten, pflegten Kontakte zu ihren
japanischen Kollegen. Sie sammelten Kenntnisse über das Land und seine
Kultur und sie instruierten Schüler, die meist aus dem Kreis der Dolmetscher
kamen. Und so habe ich in den Mittelpunkt dieser Geschichte der Europäer
im alten Japan einen Mann gestellt, der zu dieser Berufsgruppe gehörte,
die in Japan immer geachtet war: Engelbert Kaempfer (1651-1716).
Den Pastorensohn aus Lemgo in Westfalen zog es eigentlich gar nicht dorthin.
Aber der Arzt und Naturforscher bekam 1683 das Angebot, als Sekretär einer
schwedischen Gesandtschaft nach Isfahan, an den Hof des persischen Schahs zu
reisen. Als er annahm, geschah das aus der Neugier des Forschers heraus und
aus Karrieregründen. Er wollte seine Position und seinen Ruf am schwedischen
Königshof stärken. Es war Zufall, daß er in Isfahan einigen
Herren von der Niederländischen Ostindischen Kompanie begegnete. Sie machten
ihm das Angebot, weiter in den Osten zu reisen - wenn auch nur als angestellter
Arzt, der da zu arbeiten hatte, wo man ihn brauchte. Kaempfer träumte von
China. Dort zu forschen und zu beschreiben, was er sah und erlebte, würde
ihm, wie er hoffte, die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Kreise Europas
einbringen.
Aber zunächst kam er nicht einmal bis nach Batavia. Er saß am Persischen
Golf und in Südindien fest. Als er endlich doch noch Java erreichte, hatte
er seine Träume von China schon begraben müssen. Er bewarb sich in
Batavia nur noch für den Posten eines Arztes am Hospital. In seiner Freizeit
wollte er botanische Studien treiben. Doch den Posten bekam er nicht. Statt
dessen erhielt er wieder ein überraschendes Angebot: Er könne Arzt
in der niederländischen Faktorei in Japan werden. Kaempfer zögerte.
Wie er hörte, war man dort gezwungen, eingeschränkt und eingesperrt
auf einer winzigen künstlichen Insel zu leben.
Aber dann hat Engelbert Kaempfer das Angebot doch noch angenommen. Aus zwei
Jahren Fleißarbeit in Japan entstand ein großartiges und detailliertes
Werk über das prosperierende Japan der Genroku-Periode (1688-1704). Kaempfer
sah ein starkes und selbstbewußtes Land mit einer sehr differenzierten,
eigenständigen Kultur. Der Arzt aus Lemgo war besessen von seiner selbstgestellten
Aufgabe. Er notierte, er skizzierte, er schritt durch bunte Tempel mit vergoldeten
Säulen und fremdartigen Bildnissen. Er glitt über die Tatamis herrschaftlicher
Paläste. Er begegnete Priestern, großen Herren und schönen Frauen.
Er beobachtete das Leben auf den Straßen, den Luxus in den Häusern
der Großen und das Elend der Armen. Wenn er über die Straßen
Japans ritt, vorbei an hohen weißen Burgen und niedrigen Hütten,
begegneten ihm Tod, Glanz und Elend, Herren und Knechte. - Und das Werk, das
schließlich aus diesen Eindrücken entstand, sollte in seiner Objektivität,
seiner Vielfalt und in seinem Umfang bis ins 19. Jahrhundert unübertroffen
bleiben.
Doch zurück zur gegenseitigen Einschätzung von Europäern und
Japanern. Im Anschluß an die euphorische Wertschätzung Japans durch
die Missionare - zumindest in der erfolgreichen Zeit von 1550 bis etwa 1612
- schnitt Japan auch in der Mitte des 17. Jahrhunderts in der Beurteilung durch
die Europäer sehr gut ab. Und so blickt auch Bernhardus Varenius (1649)
mit seinem kompilatorischen Werk wohlwollend auf die ferne Kultur. Auch in den
Berichten und Beschreibungen der Engländer und Niederländer, etwa
denen von Richard Cocks (1623) und François Caron (1636), überwiegt
noch das Positive. Engelbert Kaempfer, der sich von 1690 bis 1692 in Japan aufhielt,
schrieb den letzten großen objektiven Augenzeugenbericht des 17. Jahrhunderts.
Auch Kaempfers Japanbild ist noch positiv, ebenso das des Carl Peter Thunberg,
der 1775 nach Japan kam. Dann folgte bis ins nächste Jahrhundert an Berichten
nichts Vergleichbares mehr.
Als etwa ab der Mitte des 18. Jahrhunderts in Europa das Zeitalter der Aufklärung
begann, meinte man dort, den Gipfel der Schöpfung erreicht zu haben. Alles,
was nicht dem Vergleich mit Europa, dem Mittelpunkt der Welt, standhielt, galt
nun als zweitrangig. Japan, dem man nun ein "despotisches" Regierungssystem
und "unmenschlichste Grausamkeit" seiner Gesetze nachsagte, konnte
nicht mehr, wie früher, als Vorbild dienen und gar zur Kritik an europäischen
Verhältnissen herhalten. Es entstand nun das Bild vom nachahmenden Japaner,
das sich noch bis ins 20. Jahrhundert hielt. Diese kritische Bewertung gründete
sich aber nicht auf neues Material aus Japan. Die skeptischen Stimmen, darunter
Montesquieu, Voltaire und Jonathan Swift, mußten sich auf die Berichte
Kaempfers und seiner Vorgänger stützen. Auch die wenigen Kaufleute
der Niederländischen Ostindischen Kompanie, die noch in Japan ausharrten,
wurden in Europa mit zunehmender Verachtung angesehen. Stellvertretend dafür
läßt sich der englische Schriftsteller Oliver Goldsmith (1728-1774)
zitieren: "Durch die niederländischen Kaufleute [
] erfahre ich,
wie sehr Habgier die menschliche Natur erniedrigen kann [und] was an unwürdigen
Dingen ein Europäer des Gewinnes willen erdulden kann." (4)
Zu der Zeit, in der Goldsmith dies schrieb (1760), lagen aber die goldenen Zeiten
für Handel und Gewinn lange zurück. Die "unwürdigen Dinge",
auch der illegale Privathandel, begannen überhandzunehmen. Dennoch war
der Handelsposten in Japan einer der wenigen, der für die Niederländische
Ostindische Kompanie noch etwas Gewinn machte. Dort begann damals ein Sinneswandel.
Einzelne weitsichtige Japaner, und dann auch der Shogun, begannen sich für
die Ergebnisse der westlichen Wissenschaften zu interessieren. Langsam verschwand
nun das "Possenspiel" bei den Audienzen des Shogun für die niederländischen
Gesandten, über das auch in der Zeit nach Kaempfer noch viele Beteiligte
berichtet hatten. Vor allem die Kompanieärzte wurden nun ernsthaft befragt.
Als mit dem schwedischen Arzt und Naturwissenschaftler Carl Peter Thunberg nach
langen Jahren wieder ein besonders "gelehrter Doktor" in die Hauptstadt
Edo kam, hingen dort sogar der Leibarzt des Shoguns und dessen angesehene Kollegen
an seinen Lippen und ließen sich in westlicher Medizin unterweisen. Für
die Ostindische Kompanie aber waren Dienstleistungen wie etwa die Nachrichten
aus dem Ausland, der oben erwähnte Transfer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse
oder die Lieferung von Kuriositäten und Merkwürdigkeiten ein Vehikel,
das der Beförderung des Handels dienen sollte.
Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zeigte sich mit dem Untergang der VOC
die Schwäche der niederländischen See- und Kolonialmacht. Die Republik
der Niederlande war wirtschaftlich in Bedrängnis. Aufstände und Fremdherrschaft
bedrohten das Land. Auch in Japan ging der Handel drastisch zurück. Obwohl
es die Kompanie nicht mehr gab, wehte im Hafen von Nagasaki immer noch die Flagge
mit ihrem Emblem. Wenigstens vor den Japanern versuchte man, die schwindende
Bedeutung zu verbergen. Die Anwesenheit der Niederländer diente oft nur
noch dazu, den Posten für eine ungewisse Zukunft zu bewahren. So viele
andere Handelsniederlassungen waren in der Zwischenzeit an konkurrierende Nationen
gefallen. Doch es gab einen Unterschied: Das war das Bestreben der Japaner,
die Isolierung ihres Landes aufrechtzuerhalten und deshalb nur die Niederländer
als Handelspartner zu dulden.
Um 1800 begannen die Versuche anderer Mächte - vor allem der Russen -,
in die Fußstapfen der Niederländer in Japan zu treten oder wenigstens
am Handel zu partizipieren. Die Besatzung auf Deshima, der künstlichen
Insel vor Nagasaki, war oft nur noch dazu da, andere Bewerber um die Gunst der
Japaner rechtzeitig zu erkennen und abzuwehren.
In den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts gab es einen letzten Höhepunkt
in der Begegnung von Europa und dem alten Japan. Das war der erste Aufenthalt
des deutschen Arztes Philipp Franz von Siebold in Nagasaki (1823-29). Als ob
er gewußt hätte, daß es vieles aus der Kultur des alten, des
abgeschlossenen Japans bald nicht mehr geben würde, organisierte Siebold
eine unvergleichliche Sammelaktion von Naturalien, von Gegenständen des
japanischen Alltags und der Kunst. Er verstieß damit gegen die Gesetze
des Landes und brachte sich und seine japanischen Zuträger in höchste
Gefahr.
Die Welt außerhalb Japans änderte sich im 19. Jahrhundert erheblich.
Es wurde für das Inselreich immer schwieriger, die Isolation aufrecht zu
erhalten, die sich seit Jahrhunderten bewährt hatte. Das Interesse der
seefahrenden Mächte am nördlichen Pazifik wuchs. Die Wale in der Japanischen
See lockten die amerikanischen Walfänger an. Diese benötigten für
ihre jahrelangen Reisen einen Stützpunkt in der Region. Die industrielle
Revolution brachte das Dampfschiff hervor und die Waffentechnik machte Fortschritte.
Japan war nicht mehr das abgelegene, schwer erreichbare Land, und die Versuche
seiner Regierung, die Schiffe und Seeleute anderer Nationen von ihrer Küste
fernzuhalten, wurden darum immer bizarrer und anachronistischer.
Und so geschah, was geschehen mußte: Im Juli 1853 ankerte eine amerikanische
Schwadron, die schon zur Hälfte aus Dampfschiffen bestand, vor der Stadt
Uraga in der Bucht von Edo, dem heutigen Tokyo. Ihr Kommandant, Kommodore Matthew.
C. Perry, nötigte die Japaner, ein Schreiben seines Präsidenten entgegenzunehmen.
Dieser unterbreitete eine Reihe von Vorschlägen, die vertraglich geregelt
werden sollten. Perry hatte von seinen zahlreichen Vorgängern gelernt.
Er war auf zeremonielle Würde bedacht. Er zeigte Stärke und er zeigte
seine Waffen. Er gab den Japanern für ihre Entscheidung Zeit und zog sich
zurück. Im folgenden Jahr war er mit noch mehr Schiffen, Geschützen
und Geschenken wieder da. Der schwachen japanischen Regierung blieb nichts anderes
übrig, als einzulenken. Der Vertrag von Kanagawa, der am 31. März
1854 abgeschlossen wurde, öffnete zwei japanische Häfen für amerikanische
Schiffe. Die selbstgewählte Isolierung des Inselreiches war durchbrochen,
Verträge mit anderen Nationen folgten, und in Japan begann ein Prozess
der Veränderung, der bis heute nicht zum Stillstand gekommen ist.
Auch noch im heutigen Japan sind die Nachwirkungen der Tokugawa-Zeit - der Zeit
der Isolierung - erkennbar. Sie zeigen sich beispielhaft in der Betonung der
nationalen Unabhängigkeit und Identität und im Wunsch des Einzelnen,
mit seiner Gruppe zu harmonieren. Das können wir bei jedem Trupp japanischer
Touristen beobachten, die - wie vor Jahrhunderten die Europäer in ihrem
Heimatland - als Gruppe und distanziert die Wunder des alten Europa bestaunen.
Anmerkungen
Zitatübersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, vom Verfasser.
1 Beasley 1995a, 18.
2 Zit. in: Boxer 1967, 29.
3 Bowers 1970, 22.
4 Oliver Goldsmith, The Citizen of the World, London 1760.